Betongold Matthäus

Das Betongold Matthäus Plakat ist da!

Das Plakat als PDF

gibt es hier.

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Eine Stadt für Alle
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ONLINE BEITRÄGE MATTHÄUS

Die Online Beiträge, die wir hier präsentieren, „erweitern“ das Plakat und laden ein zum weiterlesen. Wir veröffentlichen gerne auch weitere Beiträge rund um das Matthäus – schreibt uns, wenn ihr Ideen habt an kontakt@stadtfueralle.info

Wir sind die Strasse: Identität, Aneignung, Gestaltung

Ein Beitrag zur Bärenfelserstrasse, von Anna-Isabel Perracini

Noch nie zuvor bin ich einer solchen Strasse begegnet. Das Zusammenleben in diesem Raum beeindruckt mich. Judith erzählt mir, dass über all die Jahre viele Bewohner*innen noch immer gerne und aktiv daran teilhaben. Es sei einem wichtig, wer neben einem wohnt. «Die Nachbarschaft ist ein zweites Zuhause», sagt Judith. Zumindest hier, in der Bärenfelserstrasse, sei es schon immer so gewesen.

Eine meiner vielen Notizen, die ich während meiner Masterarbeit schreibe. Ich beschäftige mich mit urbanen Gemeinschaften, genauer gesagt, mit dem, was sie hervorruft und erhält. «Sie sind das Herz der Wohnstrasse, halten die Gemeinschaft zusammen und nähren sie auf die wärmste Art und Weise. Ein bisschen wie Magnete. Sie ziehen alles und jede*n an, was gut für diese Gemeinschaft ist», sagt später der langjährige Bewohner Leo über Judith und ihren Mann Ruedi.

Während meiner Zeit in der Bärenfelserstrasse im Matthäusquartier, der ersten Wohnstrasse der Schweiz und Vorreiterin der Belebung des Strassenraumes, lerne ich Menschen kennen, an die ich mich noch lange erinnern werde. Während heute trotz teuren Architekturwettbewerben vielerorts anonyme Wohnüberbauungen mit ungenutzten Aussenräumen entstehen, haben diese Menschen vor vierzig Jahren mit Eigeninitiative und viel Durchhaltevermögen in der Bärenfelserstrasse eine einzigartige urbane Gemeinschaft geschaffen. Sie zeichnet eine Erfolgsgeschichte der Strassenaneignung und ist bis heute identitätsstiftend für das Matthäusquartier und die Menschen dort. «Die Bewohner*innen identifizieren sich stark mit der Bärenfelserstrasse. Sie kennen ihre Geschichte, haben in ihre Entstehung investiert, kümmern sich um sie, pflegen und erhalten sie. Das ist der Grund, warum jede*r, der oder die hierherzieht, bleibt oder zumindest irgendwann zurückkommt.»

Gedanken, die Dieter an einem Nachmittag in seinem Garten an der Bärenfelserstrasse mit mir teilt: «Mit all der Anonymität, die wir durch unsere Art zu planen und zu bauen fördern, sind wir auf dem besten Weg, die Gemeinschaft zu zerstören. Wenn Autos Staus auf den Strassen bilden, wie soll ich die Menschen auf der anderen Seite grüssen? Wenn wir alle einzeln in unseren kleinen Hinterhöfen sitzen, wo tausche ich mich mit meinen Nachbar*innen aus? Der Individualismus hat so stark zugenommen, dass er zur Normalität geworden ist. Hier, in der Bärenfelserstrasse, haben wir dagegen gekämpft. Und soweit ich sagen kann, haben wir aussergewöhnliche Arbeit geleistet. Ich meine, schau, wo wir jetzt sind, treffen uns auf der Wohnstrasse und beim Mittagessen, beteiligen uns, engagieren uns, fordern und verändern, kümmern und kennen uns.»

Mit jedem weiteren Besuch der Bärenfelserstrasse frage ich mich mehr, was es braucht, damit Orte wie diese entstehen, bestehen. Und warum so viele Autos auf engen Quartierstrassen fahren, anstatt dass dort Stühle, Tische und Spielsachen stehen. In all den Strassen, die unsere privaten Grundstücke miteinander verbinden, steckt so viel Potential, urbane Gemeinschaften zu schaffen und ein Zusammenleben zu stärken. Die Bärenfelserstrasse zieht voran, die Geschichten der Bewohner*innen begeistern, bewegen, inspirieren. Wie Judith und Ruedi ihre Wohnung als Gemeinschaftsraum teilen, wie jeden Dienstagmittag Eltern und Kinder der Strasse zusammen essen, jeden Freitag ein*e Bewohner*in der Strasse für die Gemeinschaft kocht, wie Feste, Flohmärkte und Kerzenziehen organisiert werden. Und wie alle hier eine kleine, unausgesprochene Aufgabe übernehmen, damit die Strasse bleibt, was sie ist: ein lebenswerter Wohnraum und identitätsstiftender Ort durch Belebung, Begegnung, Aneignung und Gestaltung.

Foto © Leo Arnold, Bewohner Bärenfelserstrasse

Die Müllheimerstrasse 77 – unser Stadtbüro

EIn Beitrag von Rebekka Ammann

Seit dem 01. August 2021 hat der Verein ‘Stadt für Alle’ sein Zuhause an der Müllheimerstrasse. Das Erdgeschoss des Eckgebäudes mit rotbraunem Sandstein-sockel, denkmalgeschützter Bausubstanz und einladenden Schaufenstern, bietet Raum für Aktivismus, Politik, Wissenschaft und Austausch.
Mit dem Einzug gründete der Verein das ‘Stadtbüro’ und schuf sich damit einen physischen Anker- und Verknüpfungsplatz im Herzen des Matthäusquartiers. Die Müllheimerstrasse 77 steht vis-à-vis der Matthäuskirche, einem Spielplatz, dem Matthäusplatz und die angrenzenden Strassen sind sehr Bewohner:innen freundlich gestaltet. Das Stadtbüro liegt somit an einem belebten und vielseitig bespielten Standort. Die grossen Fenster des Parterres bieten grosszügige Schauflächen für unterschiedlichste politische Anliegen, Plakate, kleine Ausstellungen und wenn sich Abends die diversen politischen Gruppierungen am grossen Tisch im Parterre versammeln – scheint das warme Licht einladend nach Aussen.


Die Müllheimerstrasse 77 hat eine lange Geschichte, die bis ins Jahr 1901 zurückreicht. Erbaut wurde das Gebäude von dem renommierten Basler Architekten Gustav Doppler, der auch die Heiliggeistkirche und das Klaraspital entwarf. Im Auftrag von Alois Schmitt und Sofie Rosina Säuberli entstand das markante Eckgebäude, das mit seinem rotbraunen Sandsteinsockel und den großzügigen Fensterflächen seit jeher einen prägnanten Anblick in der Nachbarschaft bietet. Nach dem Tod der Bauherr:innenschaft ging die Liegenschaft an ihre Töchter Bertha Titze-Schmitt und Emma Frei-Schmitt über, die das Haus schließlich an die Familie Vögtli verkauften. Diese lebt zwar nicht selbst in der Liegenschaft, ermöglicht vielen Vereinen und mehreren Familien, an zentralster Lage, im Herzen des Matthäusquartiers, bis heute, kostengünstigen Raum zu nutzen. Im Jahr 1989 wurde das Erdgeschoss erstmals als öffentliche Quartierkontaktstelle bespielt. Und in ähnlichem Sinne bringt auch das ‘Stadtbüro’ im Jahr 2024 die Bewohner:innen zusammen.

Als Verein schätzen wir die geschichtsträchtige Liegenschaft an der Müllheimerstrasse 77 sehr. Wir sind uns bewusst, dass in Zeiten konstant steigender Mietzinse, es alles andere als selbstverständlich ist, dass ein wohnpolitischer Verein, einen unbefristeten Mietvertrag, zu erschwinglichem Mietzins, an solch prominenter Lage erhält. Dieses Privileg (was keines sein sollte) nutzt das Stadtbüro und versucht es so gut als möglich zu teilen.
Das Stadtbüro kann und macht vieles, es ist mehr als ‘nur’ ein Büro. Es ist ein Ort der Vernetzung und Anlaufstelle für Menschen und Gruppen, die von Stadtentwicklung negativ bedroht und betroffen sind. Es verbindet Bündnisse, gibt Raum für Organisation, Sitzungen und Veranstaltungen, bietet Stauflächen, fixe Arbeitsplätze, ist Startpunkt für Stadtrundgänge, oder bietet Raum und Infrastruktur für Ausstellungen – wie beispielsweise die Schaufensterausstellung ‘Warum ich?’ – eine Ausstellung die auf das Thema Racial Profiling in Basel und der Schweiz aufmerksam machte.

Das Stadtbüro hat sich viel vorgenommen: Unser Zuhause wird geteilt und im Stadtbüro möchten wir Kollektive zusammenbringen, Individuen vernetzen und Politik, Aktivismus und Wissenschaft vereinen.
Zurzeit wird das Stadtbüro, nebst den regulären Nutzungen des Vereins Stadt für Alle, regelmässig von 9 Gruppierungen besucht, diese möchten wir euch hier gerne vorstellen:

Quartierverein ‘Matthäusplatz – Unser Platz’

Der Quartierverein ‘Matthäusplatz – Unser Platz’ engagiert sich für die Gestaltung, Nutzung und Pflege des Matthäusplatzes. Ziel des Vereins ist es, das Miteinander und das Wohnumfeld zu fördern sowie kulturelle Aktivitäten im Quartier zu entwickeln und zu unterstützen. Ein Beispiel für das Engagement des Vereins ist die Petition ‘Matthäusplatz bleibt Matthäusplatz’, die im September 2024 eingereicht wurde. Die Petition wendet sich gegen die heimlich vollzogene Namensänderung des Matthäusplatzes und fordert, dass solche Entscheidungen transparent und unter Einbezug der Nachbar:innenschaft getroffen werden. Als Verein unterstützen wir diese Initiative – danke für eure Arbeit.
-> https://www.matthaeusplatz-basel.ch

Mozaik

„Mozaik“ ist die Quartierzeitung, die regelmäßig in mehreren Sprachen erscheint und kostenlos verteilt wird. Sie informiert über aktuelle Themen aus den Bereichen Politik, Kultur, Geschichte und Soziales, die das untere Kleinbasel und St. Johann betreffen. Gegründet und betrieben von Anwohner:innen ist die Zeitung seit 1992 ein ehrenamtliches Projekt.
Unser Verein „Stadt für Alle“ pflegt eine enge Partnerschaft mit „Mozaik“ und wir freuen uns stets, kleinere Beiträge für die Zeitung beizusteuern.
-> https://mozaikzeitung.ch

Basel Wandel

‘BaselWandel’ ist eine Plattform für Vernetzung und Information, die Transformationsprozesse begleitet. Als offenes Netzwerk hat sie sich zum Ziel gesetzt, Engagierte, Interessierte und Projekte miteinander zu verbinden. Der[JG1]  2014 gegründete Verein schafft ein Umfeld, in dem Projekte und Organisationen durch gegenseitige Vernetzung und Zusammenarbeit gedeihen können.
-> https://baselwandel.ch

Klimastreik Basel

Die Jugendbewegung ‘Klimastreik Basel’, in der hauptsächlich Schüler:innen, Auszubildende und Studierende aktiv sind, setzt sich dafür ein, den politischen Druck zu verstärken und das öffentliche Bewusstsein für eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft zu schärfen. Die Gruppierung ‘Klimastreik Basel’ ist Teil von Klimastreik Schweiz und der internationalen FridaysForFuture-Bewegung ist aber selbstständig organisiert. Wir finden es grossartig, wie ihr unser Stadtbüro mitbelebt.
-> https://basel.climatestrike.ch

Basel 2030

Die ‘Basel 2030 – Klima Gerechtigkeits Initiative’ wird von Menschen aus Basel organisiert, die lokal und vor Ort etwas gegen die Klimakrise unternehmen wollen. Dafür wurde im Jahr 2020 die Klimagerechtigkeitsinitiative Basel 2023 lanciert, diese war erfolgreich, durchgesetzt wurde jedoch der Gegenvorschlag und somit steht jetzt das Ziel ‘Netto Null’ bis 2037 in der Verfassung des Kantons.
Auch wir unterstützen diese Initiative und sind dankbar für eure Arbeit.
-> https://basel2030.ch

Dreirosen bleibt!

Der Verein „Dreirosen bleibt / Rheintunnel Nein“ kämpft – wie der Name schon verrät – gegen die geplante Autobahnerweiterung im Zentrum von Basel. Wir unterstützen diese Initiative voll und ganz und danken euch für euren Einsatz!
-> https://dreirosenbleibt.ch

Jetzt Wenden

‘Jetzt wenden!’ ist eine Basiskampagne, die sich regelmäßig im Stadtbüro trifft und organisiert. Sie spricht sich entschieden gegen den Autobahnausbau aus und möchte mit ihrer Kampagne einen klaren NEIN in der Abstimmung vom 24. November erreichen. Vielen Dank für euren engagierten Einsatz!
-> https://jetztwenden.ch/de/

Urban Agriculture Basel

‘Urban Agriculture Basel’ setzt sich seit über 10 Jahren für nachhaltige und biologische Lebensmittelkreisläufe ein. Der Verein berät Projekte und Organisationen darin, wie sie ihre Ressourcen am besten für eine regenerative, erdverträgliche und zukunftsfähige Ernährung nutzen können.
Danke für eure sehr wertvolle Arbeit.
-> https://www.urbanagriculturebasel.ch

Quartier Jobs

‘QuartierJobs’ ist eine Platform zur Vermittlung von kleinen und einfachen Jobs wie Einkaufen, Hund ausführen, Gartenhilfe, Altpapier bündeln und vieles mehr. Die QuartierJobber:innen arbeiten selbstbestimmt und möchten faire Löhne ermöglichen im Quartier.
Danke für euer Engagement.
-> https://www.quartierjobs.ch


Das Mietshäuser Syndikat Basel

Ein Beitrag von Hans-Georg Heimann

Wie kam es zur Gründung dieser noch recht jungen Wohngenossenschaft?

Nach Ende der Bauarbeiten der Nordtangente geriet das heruntergekommene Gebiet rund um das jahrelange Baugelände entlang der Horburgstrasse und Voltastrasse unter einen gewaltigen Aufwertungsdruck. Viele Häuser wechselten die Besitzer und wurden leergekündet, saniert oder abgerissen.  Die Stadt selbst wollte eine ganze Reihe alter Arbeiterhäuser an der Wasserstrasse abreissen, nachdem sie jahrelang den Unterhalt der Häuser vernachlässigt hatte. Es kam zu einer starken Mieterinnenbewegung, da günstiger Wohnraum zunehmend verschwand. Die Gewerkschaft IGA veranstaltete im Rahmen ihrer Armutskampange 2008 das dritte Armutstribunal zum Thema ‚Wohnen am Existenzminimum – Aufwerten gleich Verdrängen?‘

Der Kanton hatte in den siebziger Jahre ihre über 1000 Sozialwohnungen schrittweise zu  marktgerechten Wohnungen aufgewertet und grösstenteils veräussert. Anstelle des städtischen Wohnraumes für Bedürftige wurde mit Mietsubventionen gegen die grassierende Wohnungslosigkeit von Sozialhilfebezügerinnen gekämpft. Der erneute Kauf städischen Wohnraumes für Bedürftige wurde vom Kanton nicht in Betracht gezogen.

Deshalb gründeten 2012 betroffene MieterInnen und zivilgesellschaftliche Organisationen eine Plattform für die Vernetzung, Wissenstransfer und Beratung bei Mieterinnenkämpfen.     

Neuer Hotspot der Aufwertung und Verdrängung war Kleinhüningen und Klybeck mit den Grossprojekten der Hafenumgestaltung und Umnutzung des Klybeckareals der Ciba-Geigy. Aus der Vernetzungsplattform wurde eine Organisation. 2014 gründetet die Plattform die Genossenschaft Mietshäuser Syndikat (MHS), um das erste Haus an der Klybeckstrasse zu kaufen. 2016 gelangten die einst umkämpften Häuser an der Wasserstrasse im Baurecht an die Wohngenossenschaft Gnischter. 

‚selbstverwaltet – solidarisch – expansiv – dezentral’

Unter diesem Motto versteht sich die Genossenschaft MHS als Dachgenossenschaft selbstverwalteter Wohnprojekte. Die Häuser werden gemeinsam erworben und die bisherigen Bewohner:innen als Mitglieder in die Genossenschaft aufgenommen. Der Name entstammt unserer „grossen Schwester“, dem Mietshäuser Syndikat in Deutschland.

In den folgenden Jahren konnten Haus für Haus von Mieterinnen in die Genossenschaft überführt und dem spekulativen Häusermarkt entzogen werden. Neben dem Erwerb von 12 Häusern konnten zwei Neubauten realisiert werden und eine Fusion mit einer bestehenden Hausgenossenschaft. Zusammen mit weiteren Genossenschaften ist das MHS aktuell in Pratteln mit dem ‚osteck‘ an einer grossen Umnutzung von einer Fabrik in Wohnbauten beteiligt.

Laufend bekommt das MHS Anfragen von Mieterinnen, welche von Kündigung bedroht sind. Nur in den allerseltensten Fällen gelingt es aber den Wohnraum genossenschaftlich zu erwerben. Sobald das Haus per Makler im Bietverfahren öffentlich angeboten wird, steigen die Preise so hoch, dass es für die Genossenschaft unmöglich wird, mitzuhalten. Die erfolgreichen Käufe konnten alleine dadurch erzielt werden, wenn der Hausbesitzer Beziehungen zum Haus und den Mieterinnen hat, die er nicht einfach dem sogenannten freien Markt preisgeben will.

Video zum Crowdfunding

Im August 2024 starteten wir das Crowdfunding für unser Plakat. Dank der grosszügigen Unterstützung von mehr als 70 Personen, brachten wir es am Ende auf knapp über 8’000 SFr, wodurch wir Druckkosten und Design des Plakats finanzieren konnten. Wir danken allen, die beigetragen haben. Merci!

Abzockerliegenschaften

Ein Beitrag zur Ausnutzung von benachteiligten Mieter:innen, von Michel Steiner

Anfang Oktober 2024 wurde an der Feldbergstrasse ein ganzes Wohnhaus geräumt. Und das nicht, weil es besetzt war, sondern weil Ordnung und Hygiene grauenhaft waren.

In 20 Minuten ist nachzulesen: «Es ist eine Katastrophe, das glaubt kein Mensch, was man dort antrifft», sagt der Eigentümer. Jetzt stünden ihm zehn Tage Aufräumarbeiten bevor. Zuerst werde alles desinfiziert, dann der «ganze Unrat» entfernt, so der Besitzer, der anonym bleiben will. Es sei eine traurige Sache und «kaum zu glauben, dass Menschen so gehaust haben».

Ob der Hausbesitzer wirklich so überrascht war, darf zumindest stark bezweifelt werden. Gerade im unteren Kleinbasel trifft man ein spezielles Geschäftsmodell gehäuft an: Sogenannte „Grüselhäuser“, auch als „Gammelhäuser“ oder „Abzockerliegenschaften“ bekannt. Man nehme ein altes Haus mit schlechter Bausubstanz, mache aus einer 3-Zimmerwohnung drei „möblierte Studios“, vermiete diese einzeln zum maximalen Mietzuschuss der Sozialhilfe oder der Ergänzungsleistung (EL) an Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt chancenlos sind, vernachlässige den Unterhalt und streiche so pro Wohnung plötzlich eine satte Miete um 3‘000 Franken pro Monat ein.

Neben der geräumten Liegenschaft sind mir im Quartier mindestens ein weiteres Haus an der Feldbergstrasse, eines an der Efringer- und ein weiteres an der Klybeckstrasse bekannt. Ein Haus an der Ecke Riehenring / Brombacherstrasse wurde nach einem Brand umgenutzt. Das bekannteste Beispiel im Kleinbasel, „zum Schwarzen Bären“ an der Rheingasse brannte 2019 fast vollständig aus und wurde danach von der Stiftung Edith Marion übernommen, wobei sich der Wiederaufbau stark verzögerte.

Dass diese Praxis in Basel überhaupt Fuss fassen konnte, liegt an der herrschenden Wohnungsnot und dem praktischen Ausstieg des Kantons aus dem Bereich soziales Wohnen.

Nicht zuletzt unter dem Druck der 2018 angenommenen Initiative „Recht auf Wohnen“ wurde die „kantonale Koordinationsstelle prekäre Wohnverhältnisse» geschaffen, die 2024 in die neue „Kompetenzstelle Soziales Wohnen“ integriert wurde. Dies als eine Massnahme des Gesamtkonzepts soziales Wohnen (https://www.bs.ch/wsu/sozialhilfe/soziales-wohnen/gesamtkonzept-soziales-wohnen).

Als direkte Konkurrenz der Grüselhäuser ist das Konzept „Housing First plus“ gedacht, wo Menschen mit niedrigster Wohnkompetenz, oft mit einer Sucht- und psychischen Erkrankung doppelt belastet, mit wenigen Auflagen und einer sozialen Begleitung wohnen können sollen. Allerdings fand der Kanton bisher noch keine geeignete (und bezahlbare) Liegenschaft für die geplanten 30 bis 40 Studios.

In Zürich ging man übrigens noch rigoroser vor und hat einige einschlägige Liegenschaft enteignet und umgenutzt.

Bildquelle:

Tageswoche, 28. Mai 2018: „Acht Quadratmeter für 950 Franken“, von Jeremias Schulthess & Gabriel Brönnimann

Quellen:

https://www.20min.ch/story/basel-fotos-aus-dem-gammelhaus-es-sind-grausame-zustaende-103197979

https://tageswoche.ch/gesellschaft/acht-quadratmeter-fuer-950-franken-der-horror-in-der-sozial-abzocker-pension/index.html

https://tageswoche.ch/form/reportage/menschenunwuerdig-und-aifach-gruusig-die-gammelhaeuser-von-basel/index

Privatinvestor:innen

Ein Beitrag von Jacob Geuder

Die Kategorie der Privatinvestor:innen wird bei uns seit jeher kontrovers diskutiert. Lassen sich wirklich alle Hausbesitzer:innen, die nicht in ihrem Haus wohnen, als Investor:innen bezeichnen? Dieser Text versucht eine Annäherung an diese Frage anhand der Daten aus dem Matthäus-Quartier.

Die Kategorie der Privatinvestor:innen ist eine komplexe. Auf dem ersten Plakat der Serie, (Betongold Rosental) unterschieden wir Privatpersonen gar nicht. Auf dem zweiten Plakat (Betongold Klybeck + Kleinhüningen) führten wir eine Unterscheidung ein zwischen Privatpersonen, die im Haus wohnen und Privatpersonen, die nicht im Haus wohnen. Damit wollten wir Eigentümer:innen unterscheiden, die ein Haus als Wohnort selbst nutzen oder das Haus potenziell vor allem als Geldanlage nutzen. Beim dritten Plakat (Betongold Matthäus), bleiben wir bei der inhaltlichen Unterscheidung, spitzen diese jedoch durch die Umbenennung zu Privatinvestor:innen (Private wohnen nicht im Haus) und Hausbewohner:innen (Private wohnen im Haus) weiter zu.

Aber sind wirklich alle Privatinvestor:innen vor allem am Profit und weniger am Haus als Wohnort selbst interessiert? Eine pauschale Antwort gibt es nicht. Tatsächlich verbergen sich hinter der Kategorie der Privatinvestor:innen drei verschiedene Typen von Eigentümer:innen. Der erste Typ von Privatinvestor:innen sind «Kleinbesitzer:innen», die höchstens vier Wohnungen besitzen. Sie wohnen mehrheitlich in Basel (58%), ihre Liegenschaften sind kleinere Häuser mit ein, zwei, drei oder manchmal eben vier Wohnungen. Ihre Gebäude sind häufig von beachtlichem Alter (durchschnittlich im Jahr 1902 erbaut). Die Einnahmen von der Vermietung dieser Liegenschaften – wenn wir durchschnittliche Mieteinnahmen von 1’000 SFr. pro Monat annehmen* – sind für die Eigentümer:innen vermutlich nicht der Hauptverdienst und eher selten besitzen sie Liegenschaften in anderen Quartieren Basels. Insgesamt besitzen die 138 Eigentümer:innen dieses Typs nur 10% aller Wohnungen von Privatinvestor:innen.

Der zweite Typ, «Privatanleger:innen» besitzen fünf bis neun Wohnungen im Matthäus. Sie verdienen – wiederum bei durchschnittlichen Mieteinnahmen von 1’000 SFr. pro Monat pro Wohnung – bis zu 108’000 Sfr. im Jahr. Von diesen Eigentümer:innen wohnt ein wesentlich geringerer Teil in Basel (37%), sie besitzen meist «nur» ein bis zwei Liegenschaften und insgesamt knapp ein Viertel (24%) aller Wohnungen in der Hand von Privatinvestor:innen. Vereinzelt besitzen Privatanleger:innen weitere Liegenschaften ausserhalb des Matthäus-Quartiers.

Der dritte Typ, der «Grossinvestor:innen», sind Privatbesitzer:innen mit mehr als zehn Wohnungen im Matthäus-Quartier. Ihnen gehören insgesamt 65% aller Wohnungen in der Kategorie der Privatinvestor:innen.  Die erlesene Gruppe der 118 Eigentümer:innen dieses Typs von Privatinvestor:innen wohnt meist nicht in Basel (nur 30% sind in Basel wohnahft), wie zum Beispiel Paul S. (34 Wohnungen im Matthäus) aus Binningen oder Jonas R. (24 Wohnungen im Matthäus) aus Wollerau. Ob diese Privatinvestor:innen noch in anderen Städten oder Ländern investiert sind, können wir aufgrund fehlender Daten nicht sagen. Aber wir wissen, dass viele dieser Privatinvestor:innen weitere Immobilien in Basel besitzen wie zum Beispiel Bernhard B. mit seinen Liegenschaften im Gundeli, St. Johann, Klybeck und Rosental. Mit geschätzten Mieteinnahmen von 120’000 bis zu 864’000 Schweizer Franken pro Jahr, verdienen diese Eigentümer:innen alleine im Matthäus genug, um sich alle paar Jahre ein neues Haus zu kaufen. Müssen diese Typen von Privatinvestor:innen noch arbeiten um ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Wenn sie wollen, aber ansonsten machen das die Mieter:innen für sie.

Da der letzte Typ von Privatbesitzer:innen der dominante Typ innerhalb der Kategorie ist, sprechen wir von nun ab von Privatinvestor:innen. Eine komplexe Kategorie, bei der wir nicht verschleiern wollen, dass sich neben Grossanleger:innen aus der Immobilienbranche auch Kleinbesitzer:innen, die beispielsweise ein Häuschen geerbt haben, hier wiederfinden.

* Dies ist eine Schätzung und ein Durchschnittswert und entsprechend sind es grobe Schätzungen. Manche Wohnungen kosten vermutlich unter 1’000 SFr. monatliche Miete, während andere Wohnungen 2’000 SFr. Miete und mehr kosten. Dazu kommen Abzüge für Steuern, Instandhaltung, et cetera.

Kleine Architekturgeschichte

ein Text von Reinhard Storz

         Städte sind durchschreitbare Geschichte und Geschichten (und Schichten).

         Wir selber sind Teil dieser Geschichte und ihrer Generationen.

Das Bild zeigt einen Quartierplan des Bläsiquartiers im Kleinbasel. Er diente als Beilage zur Beratung im Grossen Rat vom 22.Oktober 1888. Dort sollte die Weiterführung der Feldbergstrasse von der Klybeckstrasse bis zur Hammerstrasse und der Bau einer Teilstrecke der Mühlheimerstrasse beschlossen werden. Vor allem geht es im Quartierplan aber um den Bau des Horburg-Gottesackers und der Matthäuskirche, genauer um den Ankauf der Grundstücke, welche die Kirche umrahmen. Hier sind im Plan die Namen der Vorbesitzer eingetragen, deren Landbesitz der Staat, wie es im Expropriationsgesetz von 1875 heisst, zu einer angemessenen Entschädigung übernehmen will. Solche Namenshinweise auf
Vorbesitzer von Grundstücken findet man selten.

Der untere Teil der Feldbergstrasse, vom Rhein bis zur Klybeckstrasse, war zeitgleich mit der Johanniterbrücke vor 1882 gebaut worden. Mit ihren vielen Geschäften wurde sie auf dem Reissbrett als Hauptstrasse des Matthäusquartiers entworfen. Die andere Hauptstrasse, die Klybeckstrasse, existierte dagegen schon seit Jahrhunderten als Ausfallstrasse nach Kleinhünigen. Sie war schon von Bauten flankiert, als es rundherum nur Gärten und Felder gab. Damals machte sich im landwirtschaftlich genutzten Land ausserhalb der Kleinbasler Stadtmauern ab Mitte des 19.Jh. die Industrialisierung Basels bemerkbar. Zuerst wurde der Badische Bahnhof gebaut (1855, am heutigen Riehenring). Dann verschiedene Industrieanlagen: an der Sperrstrasse die Seidenbandweberei der Klara-Werke (um 1855, später Vischer & Co), im Rosentalquartier 1857 die J.R.Geigy-Fabrik zur synthetischen Farbherstellung. Und 1864 im Klybeck die Seidenfärberei von Alexander Clavel (später Ciba).

Diese schnell wachsenden Betriebe benötigten Wohnraum für ihre Angestellten, die in grosser Zahl aus den umliegenden ländlichen Regionen nach Basel einwanderten. Gemäss einer Zählung von 1860 waren von den knapp 38 000 Stadtbewohnern 10 000 in der Bandfabrikation oder in der Florettspinnerei beschäftigt. Bis 1900 wird sich die Bevölkerungszahl von Basel verdreifachen. Das setzte eine immense Bautätigkeit und den beschleunigten Ausbau von Strassen und Infrastruktur voraus.

Im vorliegenden Plan von 1888 sind die meisten Quartierstrassen bereits mit den heutigen Namen eingezeichnet. Aber es gibt noch kaum Gebäude entlang der Strassen. Nur an der Amerbachstrasse, am Bläsiring, an der Leuengasse und an der Sperrstrasse stehen aneinandergebaut auf schmalen Parzellen etwa 150 zweistöckige Ein- oder Zweifamilienhäuser mit kleinem Garten. Der Idee, günstige und zweckmässige Häuser für Arbeiterfamilien zu bauen, widmeten sich seit den 1850er Jahren neu gegründete Baugesellschaften, etwa in Form einer Genossenschaft oder einer Aktiengesellschaft für Arbeiter. Auch Firmen bauten Häuserreihen für ihre Arbeiter:innen. Diese kleinen Arbeiterhäuser bildeten in gewisser Weise eine erste Quartierschicht, bevor mit dem Brückenbau die für das Matthäusquartier typischen Blockrandbebauungen mit drei- bis vierstöckigen Miethäuser gebaut wurden. Der zeitliche Abstand der zwei Quartierschichten beträgt kaum 30 Jahre, die städtebauliche und architektonische Differenz aber ist enorm.

Wenn wir heute durch die Strassen des Matthäusquartiers spazieren, treffen wir auf drei Phasen, die eine erstaunliche Trennschärfe zeigen. Zuerst die Schicht der vielleicht 40 noch existierenden Arbeiterhäuser, dann die 3-4 stöckigen Wohnungsbauten der Zeit nach dem Bau der Johanniterbrücke, und schliesslich die vielen Wohnblöcke der 1960/70er Jahre, als die ersten Häuser der Gründerzeit durch Neubauten ersetzt wurden. Natürlich gibt es vereinzelt auch spätere Bauten.

Während den 1870er Jahren baute die Baugesellschaft für Arbeiterwohnungen über hundert Arbeiterhäuser, davon 41 am Bläsiring und 4 an der Klybeckstrasse. Sie waren zweistöckig und kosteten 12’000-16’500 Franken. Im Geschäftsbericht der Baugesellschaft von 1875/76 steht, die ganze Anlage würde eher dem kleinen Mittelstand dienen, als den Arbeitern.

Von den Eigentümer:innen der 101 Häuser, welche untersucht wurden, waren nur 36 besser gestellte Arbeiter, dazu 18 Handwerksmeister, 11 Post- und Telegraphenbeamte, 10 Lehrer und sonstige Angestellte, 9 Particulare, 6 Händler, 5 Commis, 4 Musiker und 2 hielten Kostgänger.

Firmen wie die Vischer & Co verkauften die von ihnen 1867 am Wiesenschanzenweg gebauten kleinen Arbeiterhäuser ihren Arbeitern für 4500 Franken. Aber selbst das war zu teuer. Jedes Haus hatte im Erdgeschoss ein Zimmer mit Küche, im 1.Stock zwei kleine Zimmer, dazu einen offenen Estrich. Bei einer Untersuchung 20 Jahre nach dem Bau zeigte es sich, dass in den für eine Familie geplanten Wohnungen jeweils 2 Familien wohnten, in einigen Küchen befand sich ein zweiter Herd eingebaut, der Estrich war zu Mansarden ausgebaut. In einer Wohnung wohnte eine 13köpfige Familie.

Diese Zahlen verdanken wir einer Wohnungs-Enquête, die 1891 im Auftrag der Regierung erschien. Sie untersuchte sehr gründlich die soziologischen, ökonomischen und sanitarischen Wohnverhältnisse in den frühen Arbeiterhäuser. Noch kurz ein paar Zahlen zu den ökonomischen Verhältnissen von Arbeiterfamilien um 1900.

Lohn: Bandweber/Musterweber: 38 Rp./Stunde (Jahreslohn: Fr. 890.-)

Bandweberin/Zettlerin: 14,7 Rp./Stunde (Jahreslohn: Fr. 634.-)

Lebenshaltungskosten: Brot 29 Rp./kg · Mehl 33 Rp./kg · Milch 20 Rp./l · Frisches

Schweinefleisch 170 Rp./kg · Kartoffeln 11 Rp./kg

Miete einer 3-Z.Wohnung in einem Arbeiterquartier Fr. 40.-/Mt.

Heute sieht man den zweistöckigen Arbeiterhäuschen die prekären Verhältnisse früherer Bewohner kaum noch an. Die meisten wirken kleinbürgerlich gepflegt. Manche sind vielleicht seit ihrem Bau noch im Besitz derselben Familie, andere werden teuer verkauft und von vermögenden Liebhaber:innen bewohnt. Eines der Häuschen ist pink angemalt, bei einem anderen stehen Palmen im kleinen Vorgarten. Ein weiteres ist architektonisch interessant aufgestockt, und anderswo steht ein erstaunliches Dreierensemble, in dem das ehemalige mittlere Haus heute als schmaler vierstöckiger Beton-Wohnturm in die Höhe ragt. An derselben Strasse weiter unten steht ein Einzelhäuschen eingeklemmt zwischen den fensterlosen Wänden von zwei doppelt so hohen und wohl 100 Jahren jüngeren Wohnhäusern. Das kleine Haus wirkt rührend, wie von einem Kind gezeichnet, dabei ist es im Alterspanorama des Quartiers ein Greis.

Der Erasmusplatz um 1905

Ein Text von Reinhard Storz

Die Fotografie von 1905 zeigt den Erasmusplatz von der Feldbergstrasse her, mit Blick Richtung Klybeckstrasse. Die Häuser am Platz wurden zwischen 1886 und 1894 gebaut. Alle stehen heute noch. Die im Bild sichtbaren Häuser wurden aber (bis auf eines) bei späteren Renovationen von den Schmuckelementen an ihren Fassaden befreit. So wirken sie heute gepflegt bescheiden und entsprechen den Erwartungen an Mietshäuser in einem Arbeiterquartier. Nicht zu vergleichen mit den Gebäuden am bürgerlichen Wettsteinplatz, der aus der selben Planungsphase stammt.

Der Erasmusplatz ist rautenförmig, die Ecken der anstossenden Häuserblocks sind um 45 Grad abgeschrägt. Als städtebaulichen Vorläufer wird auf das in den 1860er Jahren gebaute Eixample-Quartier in Barcelona hingewiesen.

Wie es scheint, gehen und stehen im Foto auf dem Platz vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche. Bis auf eine schwarz gekleidete Dame mit schmaler Taille tragen sie Alltags- und Arbeitskleider. Einige Personen weiter hinten stehen auf der Strasse, vielleicht sind es Jugendliche. Verkehr sieht man erstaunlicherweise keinen, auch nicht hinten an der Kreuzung der Feldbergstrasse mit der Klybeckstrasse. Nur rechts vorne biegt ein Fahrradfahrer in die Breisacherstrasse ein. Auf anderen Strassenbildern dieser Zeit erkennt man, dass die Fussgänger:innen sich meistens auf den Trottoirs bewegten, obwohl es in den Quartierstrassen noch kaum Verkehr gab. Selbst auf den vielen Postkarten mit dem Motiv der Johanniterbrücke sieht man vor allem einige Fussgänger:innen, Velos und Handkarren. Ganz im Gegensatz zur Mittleren Brücke mit ihrem regen Verkehr. Zur Brücke des Arbeiterquartiers passt eher das Bild von Rindern, Schafen und Schweinen, die jede Woche zum nahen Schlachthof im St.Johann getrieben wurden.

Der Fotograf steht mit seinem Kamerastativ mitten auf der Strasse. Es muss ein Berufsfotograf mit einer guten Kamera gewesen sein. Die kurze Belichtungszeit ergab ein Bild ohne Bewegungsunschärfe und mit grosser Schärfentiefe.

Für den Bau von Strassen, Plätzen, Wasserleitungen, Kanalisation und Strassenbeleuchtung war die Stadt verantwortlich. Der Erasmusplatz hatte einen Makadam-Belag mit Trottoir und gepflasteter Randpartie. Gepflastert sind auch schmale Strassenübergänge für Fussgänger. Der Makadam-Belag bestand aus drei Lagen Schotter von unterschiedlicher Körnung, die mit Walzen festgepresst wurden. Strasse und Platz waren zur Zeit der Fotografie erst 25 Jahre alt, vorher lagen hier Gärten und Wiesen. Im Bild zeigt der Strassenbelag Schlaglöcher, wahrscheinlich von schweren Fuhrwerken. Bereits 1889 hatten sich die Bewohner aus dem Matthäusquartier bei der Stadt über den schlechten Zustand der Strassen beschwert, auch dass es im Quartier keinen Polizeiposten und nur eine einzige öffentliche Bedürfnisanstalt (für Männer) gab, das Pissoir am Erasmusplatz. Auf dem Foto sieht man es rechts hinten.

Auffällig auf dem Foto von 1905 ist der hohe Mast mit der elektrischen Strassenlampe. Die elektrische Strassenbeleuchtung wurde in der Stadt um 1900 eingeführt, entlang der Hauptstrassen standen aber weiterhin auch Gaslaternen. Zwei Litfasssäulen, auf dem Bild ist nur eine zu sehen, zeigen Werbung (für Möbelpfister) und Ankündigungen (etwa für eine Fata Morgana Show namens der Heilige Tiger). Werbung fand man in Basel seit den 1840er Jahren schon in der National-Zeitung und in den Basler Nachrichten.

Die zeitgenössische Fotografie blickt in die Gegenrichtung zur 120 Jahre älteren. Auch hier ist der ursprüngliche Bestand an Häusern aus der Gründerzeit erhalten. Interessant, und im Matthäusquartier wohl einzigartig, wurden in Richtung Brücke an der Feldbergstrasse 1894 auf der linken Seite elf Häuser im selben Bautypus erbaut. Auch das Eckhaus am Platz folgt, etwas stattlicher, demselben Entwurf. Unter Aufsicht der Behörden, die für den Strassenbau und die übrige Infrastruktur sorgte, betrieben Spekulanten mit privaten Mitteln die serielle Bebauung dieses Strassenzugs. Es sollte schnell und möglichst kostengünstig und profitabel gebaut werden. Angesichts des immensen Bauvorhabens im neuen Quartier war diese Entwicklung zu erwarten. Wie einträglich der spekulative Häuserbau war, ist heute schwer zu recherchieren.

Diese Mietshäuser wirken anspruchslos und funktional, vielleicht sind sie deshalb heute noch in Privatbesitz. Daneben gibt es im Matthäusquartier durchaus auch anspruchsvollere, repräsentative Häuser. Sie wurden oft von Handwerksmeistern in Auftrag gegeben, von Wirten und Geschäftsinhabern. Auch erfahrene Architekten wie Gustav Doppler oder Eduard Pfrunder bauten spekulativ, also im Eigenauftrag, qualitätsvolle Miethäuser, etwa am Matthäusplatz.

Auffällig am Eramusplatz sind vor allem zwei Gebäude. Das Jugendstilhaus, in dem das Erdgeschoss als Restaurant ausgebaut ist, heute Didi Offensiv und Petite Flambeuse, wurde von Eduard Pfrunder erst 1910 gebaut, einige Jahre nach den anderen Bauten am Platz. Auf dem Foto von 1905 sieht man auf der rechten Seite noch die Brandmauer, an die das neue Haus anschliessen wird. Auch das von der Heilsarmee 1894 in Auftrag gegebene Gebäude sticht heraus. Einen solchen Stadtpalast gibt es im Arbeiterquartier sonst nirgends. Die Heilsarmee war damals in Basel erst seit wenigen Jahren präsent. Sie wurde von den Behörden als eine Art Sekte mit Misstrauen verfolgt und mit Einschränkungen belegt. Deshalb wohl baute sie ihren repräsentativen Hauptsitz nicht auf der Grossbasler Seite, sondern, gegen den Widerstand der Nachbarschaft, im neu entstehenden Arbeiterquartier. Auf einem Foto von 1920, das die gesamten Heilsarmeemitglieder zeigt, sieht man, dass im Erdgeschoss des Heilsarmeebaus mit seinen grossen Schaufenstern ein Merceriegeschäft eingemietet war, spezialisiert auf Unterkleider und Garne. Daneben, über dem heutigen Geschäft Lokal hängt ein Schild mit der Aufschrift ‚Kaffeestube!, und über dem heutigen Unverpackt steht ‚Delikatessen!. An der Ecke zur Feldbergstrasse ist ein Schild sichtbar mit der Aufschrift ‚Geldwechsel / Change!. Schon damals (wie heute) gab es am Platz einen Coiffeur, vermutlich gab es ebenso wie heute eine Bäckerei, und, ebenso nur zu vermuten, könnte anstelle der vietnamesischen und indischen Restaurants von heute ein weiterer Gasthof gestanden haben. Stattliche Restaurants gab es zudem eines am Brückenkopf und ein weiteres an der Leuengasse, unten am Rhein.

Noch eine Schlussbemerkung zum Name Erasmusplatz. Keine andere Strasse im Matthäusquartier bekam das Recht, den Namen einer wichtigen Basler Persönlichkeit zu tragen. Erasmus von Rotterdam war immerhin ein Humanist und Autor mit internationalem Ruf. Durch diese Namensgebung sollte das neue Arbeiterquartier wohl symbolisch mit der grossbürgerlichen Kultur der alten Stadt jenseits der Brücke verbunden werden.